Textvorstellung
Inhaltszusammenfassung
Sprachanalyse
Stellungnahme
Hauptsache, der Kunde greift zu/
a
CobyCounty ist ein wunderbares
Land. Die Wirtschaft brummt, die Menschen lieben Weißweinschorle und sind
immer gut gelaunt. Alle Welt beneidet CobyCounty um seinen Wohlstand. Es gibt
zwar ständig Ärger mit der Eisenbahn, aber verglichen mit den Nachbarländern,
lebt man in CobyCounty wie im Paradies. Auch die Wahlen sind dort sehr lustig.
Die Kandidaten unterscheiden sich dadurch, dass der eine ein Logo-T-Shirt trägt
und der andere einen legeren Leinenanzug. Eigentlich ist das Wählen in
CobyCounty überflüssig, denn es steht gar nichts zur Wahl. Ist die Show
vorüber, arbeiten die Kandidaten wieder nett zusammen. Alles bleibt gut.
b CobyCounty
ist eine Roman-Fantasie des Schriftstellers
Leif Randt, in der die Demokratie, so wie wir sie
kennen, der Vergangenheit angehört. Ein Wahlgang gleicht hier einem leeren
Ritual, das man aus einem Anfall grundloser Sentimentalität einfach beibehalten
hat. Natürlich sind Ähnlichkeiten mit dem Merkel-Deutschland in
Schimmernder Dunst über CobyCounty (Berlin Verlag) rein zufällig, aber
die Marketing-Prosa, mit der die Kanzlerin derzeit ihren Wahlkampf bestreitet,
hätte sich ein PR-Spezi in Randts Satire nicht schöner ausdenken können.
"Wir wollen Ihnen helfen, sich Ihre Träume zu erfüllen" lautet so ein
Merkel-Satz. Oder die verlockende Offerte, mit der sie das Konsumentenherz des
Wählers streichelt: "Gehen Sie unsere Angebote durch. Dann werden Sie
feststellen, wir machen Ihnen Angebote."
c Zeitgeistbeobachter,
zumal aus dem akademischen Sektor, zucken angesichts solcher Phrasen
gelangweilt mit den Schultern, denn sie wissen es schon lange: Es gibt keine
Politik mehr, es gibt nur noch "Postpolitik".
d
"Postpolitik",
"Postdemokratie" (oder
wie man in den USA sagt:
post-truth
politics), ist nicht nur an
den Universitäten eine beliebte Zauberformel. Auf den ersten Blick ist sie
ausgesprochen griffig, und wer sie benutzt, sieht die Welt tatsächlich mit
anderen Augen.
Die Theorie der Postpolitik beschreibt nämlich, wie das Politische
verschwindet – das Für und Wider, die großen Kontroversen um Ideen und
Gesellschaftsentwürfe, kurz: der Streit um die Wahrheit. Stattdessen tun die
Politiker alles, um die Bürger unfallfrei ins Boot zu holen. Sie reden lenorweich
und flauschig, halten ihre Themenangebote für möglichst viele Gruppen
"anschlussfähig" und vermeiden Versprechungen, an deren
Nichteinhaltung sie später schmerzhaft erinnert werden könnten. Entsprechend
matt und untertourig läuft die öffentliche Willensbildung. Die Wahlkämpfer
fächeln sich Randthemen zu, sie streiten über
salatgrüne Veggie-Days oder saftige
Autobahn-Maut. Überhaupt
führen sie den Wahlkampf eher atmosphärisch als argumentativ und zielen mehr
auf das Gefühl als auf den Verstand. Zierlich plaudert
Angela Merkel über ihren Lieblingsfilm aus schönen DDR-Tagen, und das
FAZ -Feuilleton säuselt, unsere Frau
Kanzlerin habe dabei sehr menschlich gewirkt.
e Regierung
und Opposition, auch das beschreiben Postdemokratie-Theoretiker einleuchtend,
werden sich in ihrem Erscheinungsbild immer ähnlicher, während sie markante
Unterschiede im ideologischen Hobbykeller ihrer Parteiprogramme verstecken.
Auf den Werbeflächen lächeln überall dieselben prosperierenden
Mittelschichtsgesichter, von Demoskopen durch Zielgruppenmarketing im Vorfeld
statistisch exakt ermittelt. Geschickt wie die Postbank-Werbung appellieren die
Parteien dabei an den
kleinen Egoisten, als
bestünde die Gesellschaft nur noch aus Ich-AGs und Selbstunternehmern, die
Politik allein danach bewerten, was "am Ende für mich persönlich
herausspringt". Auch eine Prise hauchzarter Nationalismus kann beim
Verkaufsgespräch nicht schaden, Hauptsache, der Kunde greift zu und fühlt sich
durch seine Wahlkaufentscheidung in seiner privaten Komfortzone nicht weiter
behelligt. Am Ende beschleicht den Wähler tatsächlich ein CobyCounty-Gefühl,
und dann glaubt er, eine Handvoll Experten würde völlig ausreichen, um den
Laden am Laufen zu halten. Richtungsstreit und Willensbildung wären überflüssig,
man könnte die Kandidaten per Mausklick aussuchen und denjenigen wählen, der am
besten zum eigenen Lifestyle passt.
f Warum
Politiker nicht mehr über Alternativen streiten, sondern nur noch artig für ihr
"Produkt" werben, auch das können
die Theoretiker der Postdemokratie gut erklären: Die Handlungsspielräume
des Staates sind geschrumpft, er hat an Einfluss verloren und stets mehr
Probleme am Hals, als er lösen kann. Deshalb ändern die Parteien den
Politikmodus und stellen um von "zielorientierter Rationalität" auf
"zeitorientierte Reaktivität" (
Niklas Luhmann). Schlichter gesagt: Sie fahren
alternativlos auf Sicht und steuern nur die Probleme an, die sie mit
Bordmitteln lösen können.
g Doch
selbst aus dieser Lage saugen Politiker noch süßen postpolitischen Honig. Durch
die "Demonstration von Ohnmacht", schreibt der Kulturwissenschaftler
Leander Scholz, nähmen sie den Bürger in Mithaftung
und erklärten ihn zum "Risikoteilnehmer" im großen Weltspiel
(Deutsche
Zeitschrift für Philosophie Nr. 3/11). Am besten also, der
Bürger blickt dem Risiko heldenhaft ins Auge und verschlüsselt beispielsweise
seine Daten selbst. Auch mit der Wahl der richtigen Partei beweist er, dass er
eigenverantwortlich über sein riskantes
Leben bestimmt. Absurd? Nein, Angela Merkel hat die These des
Kulturwissenschaftlers prompt bestätigt: "Im Grunde entscheiden Sie mit
Ihrer Entscheidung für die Wahl weniger über uns als über Ihr Leben."
h Und doch:
So bestechend solche Analysen sind – das Zauberwort von der
"Postpolitik" sollte man sparsam verwenden, denn es erzeugt einen
gefährlichen Nebel: Es suggeriert nämlich, alle politischen Gegensätze hätten
sich in Luft aufgelöst und Politik erschöpfe sich künftig im Scharmützel um
fleischfreie Tage für sündige Endverbraucher. Das ist grundfalsch, und so hatte
es
Colin Crouch, einer der Erfinder des
Begriffs, auch gar nicht gemeint. Selbstverständlich
gibt es weiterhin Macht und Machtkämpfe,
es gibt Interessenkollisionen und harte soziale Konflikte. Diese Kämpfe sind
jedoch "unsichtbar" oder werden immer seltener in nationalen
Parlamenten ausgefochten.
i Warum
das so ist, liegt auf der Hand: Der Raum des Regierungshandelns ist nicht mehr
deckungsgleich mit dem Raum der Nation, denn politische Entscheidungen werden
nicht mehr allein in Berlin getroffen, sondern auch in Brüssel und Straßburg –
in der EU-Kommission, in der Zentralbank, in Lobbygruppen, Funktionseliten und
manchmal sogar im
Europäischen Parlament.
Anders gesagt: Staats- und Regierungschefs spielen ein Spiel
"à deux mains". Mit der einen Hand bewegen sie die
Hebel auf der nationalen Bühne – und mit der anderen Hand nehmen sie Einfluss
auf die Brüsseler Politik und treffen Entscheidungen, die nachgerade
schicksalhaft sind für das Wohl und Wehe ganzer Nationen.
j Wer
jetzt immer noch behauptet, das Politische sei verdunstet, muss mit Blindheit
geschlagen sein. Das Politische hat sich lediglich verstreut und verlagert, es
ist mit bloßem Auge kaum zu erkennen oder wird, wie jetzt im
Wahlkampf, nach Kräften
"dethematisiert".
Europa ist Kassengift, es
ist ein Quotenkiller.
Merkel-Kritiker wie Jürgen Habermas haben also durchaus recht, wenn sie
der Kanzlerin vorwerfen, Deutschland nötige die "Südländer" zu tief
greifenden Reformen und verleugne gleichzeitig die gesamteuropäische
Verantwortung für die sozial desaströsen Folgen dieser Politik. Merkel fehle
das politische Format, sie betreibe einen "Opportunismus der
Machterhaltung", der sich "ohne erkennbare Grundsätze"
durchlaviert und der "Bundestagswahl jedes kontroverse Thema entzieht,
ganz zu schweigen von der sorgfältig abgeschotteten Europapolitik"
(Spiegel Nr.
32/13).
k Leider
muss man sagen, dass sich
Angela Merkel mit ihrer Abschottungsrhetorik
wahltaktisch rational verhält, ja mehr noch: dass sie von der
"Architektur" der Europäischen Union dazu sogar ermutigt wird. Warum?
Weil in Brüssel folgenschwere Entscheidungen "intergouvernemental"
getroffen werden, also zwischen den Staats- und Regierungschefs. Zu Hause kann
sich ein Politiker dann als tapferer Nationalheld präsentieren, der mit letzter
Kraft das Brüsseler Monster niedergerungen und fremden Begehrlichkeiten
getrotzt hat. Oder in der Nationalsemantik der Bundeskanzlerin: "Wenn
jemand erfolgreich ist, dann wird als Erstes gefragt, was man dem noch abnehmen
kann."
l Nicht
dass es diese Begehrlichkeiten nicht gäbe, aber die EU erscheint im nationalen
Ego-Spiel nicht mehr als ein gemeinsames Projekt, sondern als erweiterte
Kampfzone rivalisierender Staaten, die alles tun müssen, um ihre Schäfchen ins
Trockene zu bringen. Ohne die Europäische Union als Projekt infrage stellen zu
müssen, werden soziale und ökonomische Fragen dabei stillschweigend
nationalisiert.
m In diesem
Spiel hat es Angela Merkel zu großer Meisterschaft gebracht. Mit kalter Liebe,
aber glaubhaft bekennt sie sich zu Europa und vermittelt gleichzeitig den
Eindruck, sie habe "
das Unvermeidbare zur Abwendung einer Katastrophe getan"
(SZ) und wie eine Löwin fleißiges deutsches
Geld gegen den leichtlebigen Süden verteidigt.
n Kurzum,
was durch die Theorie-Brille wie Postpolitik aussieht, verdankt sich handfesten
Interessen und einem
Demokratiedefizit in der EU. Es wäre schon
viel gewonnen, wenn Kontroversen nicht mehr entlang nationaler Grenzen geführt,
sondern als europäische Themen behandelt würden. Zum Beispiel: Welche sozialen
Gruppen in Europa gehören zu den Gewinnern und welche gehören zu den Verlierern
der Brüsseler Politik? Was tun gegen die Macht der Wirtschaftslobby und ihren
Versuch, EU-Gesetzen ihren Stempel aufzudrücken? Was tun gegen die
Steuervermeidungsindustrie, die der Euro-Zone legal und illegal
jährlich eine Billion Steuern entzieht? Als hätten
sie nie von etwas anderem geträumt, fordern Politiker nun, die EU müsse zu
einer "echten politischen Union" vertieft werden. Aber wie? Als
autoritärer "Exekutiv-Föderalismus", bei dem die Regierungschefs
mächtig unter sich bleiben und mit dem Rohrstock die "Hausaufgaben"
der einzelnen Mitglieder kontrollieren – von den Löhnen bis zur Rente?
o Der Lärm,
den diese Fragen auslösen müssten, wäre so gewaltig, dass er das
Theoriegespenst der Postpolitik auf der Stelle verscheuchen müsste. Auch die
politische Lego-Sprache wäre gegen ihn machtlos, erst recht
das elaborierte Nichtssagen einer deutschen
Kanzlerin. Nur am Rande: Nichts schmeckt Politikern besser als ein fein
gewürztes Theorie-Menü, das vollmundig behauptet, wir lebten in postpolitischen
Zeiten und daran werde sich bis zum Jüngsten Tag auch nichts mehr ändern.